Dies ist der Ort, an dem ich beizeiten Auszüge meines Buchprojektes einstellen werde. Nach und nach, also irgendwie nachher. Später oder bald. Dabei ist alles eine Frage der Geschwindigkeit. Der Arbeitstitel dieses Projektes wurde von mir erst einmal „Die Schleife“ genannt. Es ist die Geschichte von Tobias und seines Lebens. Den ersten kleinen Ausüge hier habe ich hier „Mutter von Mareike und Tobias‘ Mutter“ und „Ede“ genannt. Sie sind ein wenig wahllos hier eingestellt, zeitlich aber in der richtigen Reihenfolge, ergeben später, nach Fertigstellung aber durchaus Sinn.
Mutter von Mareike und Tobias‘ Mutter
Eines Tages war die Mutter von Mareike bei uns zu Besuch. Und sie war nicht alleine. Tobias kam gerade vom Fußballspielen nach Hause und vernahm aus der Stube ausgelassenes Gelächter. Von Mareike’s Mutter, seiner Mutter und einer anderen Stimme. Er zog die Haustür hinter sich zu.
„Schatz, bist Du es?“, hörte er seine Mutter’s Stimme leicht beschwipst aus der Stube in seine Richtung lallend.
„Ja, ich bin es. Ich habe Hunger. Ich mache mir ein Brot.“
„Okay,“ säuselte seine Mutter zurück.
Zudem waren noch zwei weitere Stimmen zu vernehmen. Die eine war ohne Zweifel die Stimme von Mareike’s Mutter. Die andere, sehr männliche Stimme, hatte einen grummelnden, basslastigen Unterton, der ihm unsympathisch war.
Während er sich in der Küche ein Brot mit Schmierkäse zurechtmachte, hörte er aus der Stube das ausgelassene Gelächter der beiden Frauen und die ihm unsympathische, laute Stimme des Mannes. Er war genervt. Und noch schlimmer. Er war angewidert. „Was machen die da? Wieso ist dieser Typ hier? Und wer ist das?“, führte er ein Zwiegespräch. Mit sich selbst.
Der Typ hieß anscheinend Wolfgang. Nach Tobias‘ Meinung war er gerade auf Freigang. Das tätowierte Stirnband, sein kahl geschorener Kopf und sein dichter, ungepflegter Vollbart und diese unfassbar schlechten Armtättoos erzeugten unbenommen Eindruck. Krasser Auftritt. Direkt aus dem Knast zu Tobias nach Hause.
Vor Tobias‘ innerem Auge erschienen die Fahndungsfotos von Wolfgang, dem Mann mit dem tätowierten Stirnband und den speckigen Haaren. Angekleistert an die Litfaßsäule mit seiner Lieblingswerbung. Die zukunftweisende Milde Sorte Zigarettenwerbung durch überdimensionierte Wolfgangbilder überklebt. So würde es kommen, wie es kommen musste. Nachbarn würden Wolfgang erkannt haben, wie er täglich bei uns ein- und ausging und die Polizei gerufen haben. So würden eines Tages nach dem Fußballspielen nicht nur Tobias verschwitzt nach Hause gekommen sein, es würde auch die GSG 9 vermummt und zu allem bereit vor unserer Haustür stehen. Abgeseilt von den über unserem Haus kreisenden Hubschraubern, bis auf die Zähne bewaffnet, würden sie die Wohnungstür mit einer Blendgranate aufsprengen und wüst Befehle schreiend in die Wohnung stürmen und sich auf Wolfgang stürzen. Mit Handschellen seine Arme auf den Rücken gefesselt, den Kopf nach unten gebeugt, geleitet von den fünfzehn vermummten GSG 9 Beamten zum gepanzerten Polizeiwagen, würde sich die Polizeikarawane genauso schnell aus unserer Straße entfernen, wie sie gekommen war. Wolfgang, der unfassbar schlecht tättowierte Schwerverbrecher mit den speckigen Haaren, Tobias’ Held, hätte einen immerwährenden Spitzenplatz in seiner persönlichen Geschichtsschreibung eingenommen. Er wäre die immer und ewige Nummer 1. Ein unerwarteter Aufstieg. Für ihn, für Tobias, für alle.
Bloß Tobias‘ Mutter, sie wäre schwer enttäuscht. Wieder war es nichts gewesen. Kein Mann konnte ihr Sicherheit und Liebe garantieren. Sie saß auf ihrem Sofa und weinte als Tobias in das Wohnzimmer kam. Er nahm sie in den Arm. Er war die einzige männliche Konstante in ihrem Leben.
Ede
Für sie war der erste Freitag im Monat ein Feiertag. Sie trafen sich dann mittags bei Ede. Ihre Stimmung war hervorragend. Ede hatte seine monatliche Sozialhilfe vom Amt abgeholt. Den Auszahlungsschein hatte er zum Einlösen bei der dem Amt gegenüberliegenden Postbank zur Auszahlung eingereicht. Hiernach begann das monatlich wiederkehrende Ritual beginnend mit einer Taxifahrt zu dem strategisch günstigst liegenden Versorger. Mit einem Taxi! Ede’s Einkaufsliste variierte von Monat zu Monat wenig, eigentlich nie. Folgende, relevante Artikel befanden sich zur Sicherstellung der Versorgung für die nächsten zwei Wochen auf seiner Liste:
1. Graues Schnittbrot (6 Packungen)
2. Plockwurst (5 Packungen)
3. Marmelade (ohne Früchte) 2 Gläser
4. Obst (Wasserlösliche Vitamintabletten 5 Röhren)
5. Ravioli (4 Dosen)
6. Hühnersuppe mit Nudeln (4 Dosen)
7. Erbsensuppeneintopf (2 Dosen)
8. Toastbrot (2 Packungen)
9. Weizenkorn Vol. 38% (4 Flaschen)
10. Sternmarke Vol. 26% (3 Flaschen)
11. Carlsquell (2 Paletten Dosenbier)
12. 5 Flaschen Rivercola
13. Tabak und Blättchen (4 Dosen DRUM)
14. Rebenschoppen: 4 Liter Tetrapack Premiumqualitätsweißweinverschnitt aus 12 Ländern der Europäischen Gemeinschaft
Ede war zufrieden. Der Monat fing gut an. 50 Mark blieben übrig. Die Miete für sein Etablissement trug das Sozialamt. So konnte er leben. Für die zweite Hälfte des Monats vertraute er auf die sozialistische Teilungseinstellung seiner mitkonsumierenden Peergroup.
Sie hörten viel Musik, tranken Alkohol, rauchten und fühlten sich frei in diesen Momenten. Ede hatte eingekauft, die täglich wechselnden Besucher in seiner Bude ihre Lehrlingsvergütung eingestrichen und alles weitere würde sich ergeben. Das Leben flog so vor sich hin. Immer gleich, immer alkoholversetzt in einer blauen Qualmwolke.
Der Alkohol und der Tabak waren innerhalb von fünf Tagen unerklärlicherweise an ihren angestammten Orten nicht mehr zu finden. Sie waren einfach verschwunden. Weg. Anstatt ihrer (Flaschen und Tabak), saßen in diesem kleinen Speckzimmer Ede, Thomas und Robby. Anscheinend hatten sie ihre Aggregatzustände verändert.
Ede saß zusammengesunken wie ein nasser, klumpiger Sack auf einem klapprigen Stuhl und gab interessante Geräusche bei Tobias‘ Eintritt von sich: „Du Sau! Dju elende Sau! Auf die Fresse! Wo issie Sternmarke? Sack!“
Tobias wollte zu einer sinnträchtigen Antwort ansetzen, entschied sich aber, seine Argumentationslinie zu verwerfen. Sie würde nicht verfangen.
Ede übergab sich währenddessen in seinen Schoß und seine Augen drehten sich um 360 Grad. Er sah jetzt aus wie Linda Blair in der Exorzist. So hatte Tobias ihn noch nie betrachtet. Tobias drückte seinen Zeigefinger in Ede’s Wange, um eventuelle Lebenszeichen wahrzunehmen. Alles schien in Ordnung. Ede ächzte, „verpiss dich“, in Tobias‘ Gesicht. Tobias trafen gelb-rötliche Spucketropfen zielgenau in seinen geöffneten Mund. Er verspürte einen ekligen Würgereiz.
Auch Robbie fühlte sich jetzt animiert einen Beitrag zu leisten und eine Sympathiewelle in die stinkende, stickige Raumluft zu rotzen: „Tobias. Toobiiias. Ich liebe Dich. Ich .. liebe Dich.“ Er winselte wie ein getretener Hund. „Liebe, aller.“ Er war wirklich erbärmlich.
Aber ihre Ökobilanz war herausragend. Ein bisschen Hokuspokusqualm, wenig Essen, noch weniger Fleisch, geschweige denn Obst. Manchmal erlaubte der Restkontostand den Kauf einer LP, NIE den Erwerb „großer“ Konsumgüter, aber immer das Anreichern von viel Alkohol. Und ihr Leben würde wahrscheinlich verkürzt sein. Der Planet würde es ihnen danken.
Robbie war sogleich ins Koma gefallen und sabberte aus seinem rechten Mundwinkel. Tobias dachte nach. Vielleicht sollte er noch einen alternativen Lebensweg in Betracht ziehen. Er setzte sich auf einen Stuhl hinter dem Schwenkbereich der Wohnungstür und öffnete eine Dose Carlsquell. Er starrte anteilnahmslos in die Runde.
Ede war jetzt auch fertig. Sein Gesichtsausdruck war ein verhuschter, ängstlicher. Er saß auf seinem angestammten Stuhl, seine Gesichtsfarbe wechselte zwischen blau-grau und gelblichem Teint. Er bewegte hektisch seinen Oberkörper von links nach rechts, stand auf und ging wie ein nervöses Raubtier von der einen Ecke zur anderen des Zimmer’s, öffnete die Appartementtür setzte einen Fuß vor die Tür, zog sie wieder zu, ging zurück und setzte sich wieder auf den Stuhl und starrte mit leeren, blutunterlaufenen Augen irgendwohin. Tobias sah sich diesen sich ständig wiederholenden Vorgang fünf Minuten lang an: „Ede, alles in Ordnung, geht es dir gut?“ Ede blutete aus dem Mundwinkel. Er antwortete nicht. „Ede, kannst du mich verstehen?“
„Scheiße.“ Er schien Schmerzen zu haben. Der Rinnsal im linken Mundwinkel wurde stärker. Mit seiner linken Hand fasste er sich in die Bauchregion.
„Scheiße“.
„Ede, is was? Hast Du Schmerzen?“ Ede beugte seinen Oberkörper nach vorne über seine Knie. Er kotzte Blut. Die anderen im Zimmer schliefen besoffen. Tobias rüttelte an Robbie‘s Oberkörper. „Robbie wach auf. Mit Ede is was.“ Keine Reaktion. Ede röchelte. Die Blutkotze tropfte auf den Linoleumboden und färbte ihn rot. Tobias kriegte Angst. In diesem Zimmer hatte er schon viele Exzesse erlebt, aber nie wurden sie existenziell. Er suchte hektisch Ede’s Telefon. Als er das Telefon unter einem zusammengeknüllten Haufen alter Wäsche fand und er hektisch die Notrufnummer der Feuerwehr eingab, spürte er, dass er fliehen wollte. Abhauen, weg, irgendwohin, einfach woanders sein. Nicht mehr in dieser Asibude abgammeln, saufen, rauchen und stinken. Ede und die anderen hier ekelten ihn an. Er wäre jetzt gerne durch die Tür gestürzt. Er hätte Ede gerne seinem Schicksal überlassen. Dieser stinkende, vollgepisste Säufer.
Auf der anderen Seite des Telefon‘s meldete sich eine Stimme: „Feuerwehrnotruf, wie kann ich ihnen helfen?“
Tobias spulte, so wie er es damals in der Schule gelernt hatte, erstaunlich kalt statisch ein Programm ab: „Hallo, mein Name ist Tobias Klemper, ich befinde mich in der Grünberger Str. 42, Hinterhaus, 1. Stock, Wohnung 3 bei Ede Reinhardt. Hier befindet sich eine kollabierte, blutspuckende Person. Er ist hilflos und benötigt dringend Hilfe.“
„Ist er ansprechbar?“
„Nein.“
„Hat er Drogen eingenommen?“
„Er hat viel Branntwein und Bier getrunken.“
„Wir schicken einen Notarzt. Bitte bleiben sie bei der hilflosen Person.“
„Ja, na klar.“
Der Telefonist der Notrufannahmestelle verabschiedete sich. Es knackte in der Leitung.
Tobias zog sich seine Jacke an, verließ das Appartement, ließ aber die Tür angelehnt und legte ein Kleidungsstück zwischen Tür und Schwelle. Sie sollte nicht zufallen können. Er stieg die Treppe hinunter, ging auf die Straße und machte sich auf den Weg zu sich nach Hause. Er blickte nicht zurück.